Schreibszene live

schreibszene-frankfurtWer an einem Forschungskolleg arbeitet, das „Schreibszene Frankfurt“ heißt, und sich den großspurigen Untertitel „Poetik, Publizistik und Performanz von Gegenwartsliteratur“ ans Knie genagelt hat, erntet oft fragende Blicke: Was ist das? Was will es? Und – wozu?

Wir, die „Schreibszene Frankfurt“, das sind acht Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit ganz unterschiedlichen Hintergründen: nationalphilologischen, komparatistischen, kulturwissenschaftlichen, soziologischen und ethnologischen. Die ominöse „Schreibszene“ steht uns dabei nicht nur im Namen. Auch auf dem Orbanism Space 2016 wollen wir eine solche „Schreibszene“ installieren.

Das Konzept der „Schreibszene“ formulierte die Schweizer Forschungsgruppe um Martin Stingelin, Davide Giuriato und Sandro Zanetti in Anlehnung an Rüdiger Campe. Damit sollten die Begleitumstände der Literaturproduktion erfasst werden. Die „Schreibszene“ bezeichnet dabei eine historisch und kulturell variable Situation, mit der das Schreibwerkzeug und die Materialität, die Körperlichkeit, Medialität und Thematisierung von literarischen, aber auch nichtliterarischen Schreibakten enggeführt werden. Also nicht nur: WER schreibt? WIE schreibt jemand? Sondern auch: WO schreibt er? Und: WOMIT? Alle technisch-instrumentelle, körperlich-gestische sowie sprachlich-semantische Faktoren, die auf die Textentstehung einwirken, bilden ein rahmendes Ensemble, sie bilden eine Szene – eben die „Schreibszene“. Wir glauben, dass so eine „Schreibszene“ eine dichte Beschreibung liefern kann vom literarischen Feld unserer Gegenwart. Texte betrachten wir nicht als Produkt eines Schöpfungsaktes des Autorgenies. Texte sind für uns das Ergebnis einer Interaktion zwischen Schreibendem, Schreibmaterial und Schreibbedingungen. Diese Interaktion findet statt, sie ist beobachtbar und ist beschreibbar.

Verschiedene Akteure des Literaturbetriebs haben wir eingeladen, sich an unseren individualisierbaren Schreibtisch zu setzen und so eine „Schreibszene“ vorzuführen. Sie sollen ihre Beobachtungen zur Buchmesse aufschreiben. Anhand eines systematisierenden Beobachtungsrasters werden wir als Beobachter 2. Ordnung dann diese Akteure, die Beobachter 1. Ordnung, beim Schreiben beobachten.

Indem sich nicht nur Autoren wie Philipp Winkler, sondern auch MERKUR-Redakteur Ekkehard Knörer, Hanser-Lektor Florian Kessler und freie Literaturkritiker wie Stefan Mesch an unseren Schreibtisch setzen, wird unsere Schreibszene auch zur Literaturbetriebs-Szene. Betriebliche und institutionelle Faktoren treten zum privaten Akt des Aufschreibens hinzu – und rahmen ihn. Denn gerade auf der Frankfurter Buchmesse aktualisiert sich ja der Diskurs über Gegenwartsliteratur als Ereignis. Wir beziehen die zahlreichen Schreibszenen also auch auf einen konkreten sozialen Schauplatz, an dem sich vielfältige Produktions- und Rezeptionssituationen von Gegenwartsliteratur überlagern. Wir fragen: Wie interagiert auf der Frankfurter Buchmesse Kreativität mit Betrieb, Konjunktur und Kritik? Und wenn sich auch WissenschaftlerInnen wie die Soziologin Carolin Amlinger oder der Literaturwissenschaftler David-Christopher Assmann an unseren Schreibtisch setzten, fragen wir: Wie positioniert sich die Wissenschaft in dieser Gegenwart?

Bei uns gibt es also nicht nur „Schreibzene“ live, wir machen auch Forschung live. Alle Prozesse werden von Mittwoch bis Freitag nicht nur vor Ort, sondern auch auf unserem Blog und unserem Twitter-Account einsehbar sein. Die „Schreibszene live“ ist ein großes Experiment, sie ist Feldforschung. Sie fragt danach, welche Produktionsästhetiken die Frankfurter Buchmesse hervorbringt. Damit soll zumindest ein Teil des literarischen Feldes der Gegenwart als gemischtes und bewegliches Ensemble von Akteuren, Praktiken, Routinen und Verfahren abgebildet werden – ohne ihm seine Komplexität und Dynamik zu rauben.

„Poetik, Publizistik und Performanz von Gegenwartsliteratur untersuchen heißt, sich dem Sozialen aussetzen, mit offenem Visier. An der Ecke stehen und auf gar nichts warten, mitmachen und hingehen. Poetik, Publizistik und Performanz von Gegenwartsliteratur heißt weg vom Schreibtisch – und dahin zurück.“ So hat Hanna Engelmeier mal beschrieben, was wir tun. Trifft’s ziemlich gut. Wer sich das anschauen, wer das kommentieren oder hinterfragen will, über den freuen wir uns von Mittwoch bis Freitag jeweils von 10 bis 18 Uhr auf dem Orbanism Space 2016 oder im Internet bei unserer „Schreibszene live“!

Miriam Zeh für die „Schreibszene Frankfurt“

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