Zehn Jahre Deckenzelte – ein Text zur Gastfreundschaft von Jasmin Schreiber

Gastfreundschaft hat ganz viel mit Liebe zu tun – zu sich, zu der Welt, zu Fremden – und denke ich an Gastfreundschaft und Liebe, sehe ich unweigerlich das Gesicht meiner Freundin Chrissie vor mir.

Manche Menschen scheinen dafür geboren zu sein, Menschen zu lieben und sich zu sorgen und ich schien (damals zumindest noch) dafür geboren zu sein, umsorgt zu werden, weil ganz schön viel schief lief bei mir. Mein Leben war damals vor neun Jahren kompliziert und anstrengend und weil ich in meiner Marburger Ein-Zimmer-Wohnung so vor mich hin rottete, beschloss Chrissie: „Du wohnst jetzt erstmal bei mir und pendelst mit mir zu unseren Vorlesungen.“ Da Chrissie bei sowas eher keine Widersprüche duldet und man sich definitiv nicht mit ihr anlegen sollte, bin ich also von meiner schönen und Uni-nahen Wohnung in Marburg in die Wohnung von Chrissie nach Frankfurt gezogen und jeden Tag um fünf Uhr morgens eineinhalb Stunden gependelt. So weit, so absurd.

Doch obwohl ich jemand bin, der ausgesprochen ungern bei anderen Leuten wohnt und extrem viel Alleinzeit braucht, war das genau das Richtige. Ich habe bis heute meinen persönlichen Schlafanzug bei Chrissie: rot mit kleinen schwarzen Hunden drauf, Flanell, eigentlich zu kurz, weil sie kleiner ist als ich. Wir Freundinnen und Freunde haben damals auch unsere Zahnbürsten dort stehen gehabt, unsere Frühstückstassen. Immer, wenn man bei Chrissie zu Besuch ist, wird exotisch gekocht. Für uns exotisch, für Chrissie und ihre Mama „normal“, da meine Freundin ihre Wurzeln in Sri Lanka hat. Diese besagte Mama ist eine dieser Frauen, die alle Freundinnen und Freunde der Tochter kennt und auch immer nach ihnen fragt – man gehört unweigerlich zur Familie. Es gibt Tee von der Plantage der Familie, bis heute habe ich den Pfeffer ihrer Farm in meinen Pfeffermühlen, und zwischen Reis und Kokosmilch gab und gibt es ganz viel Liebe und Nachfragen und Kümmern. Wir haben im Wohnzimmer Deckenzelte gebaut und dort mehrere Tage gehaust, wir haben Saris anprobiert, Familienfotos angeguckt, jahrelang miteinander jedes Silvester in gleicher Besetzung zu zwölft oder dreizehnt verbracht, wir haben Pyjama-Partys veranstaltet und immer, wenn ich in diese unglaublich großen Rehaugen gucke, muss ich dran denken, wie zuhausig ich mich bei Chrissie fühle.

Mittlerweile haben wir uns ein paar Jahre nicht gesehen, weil unsere Leben gerade immer aneinander vorbeilaufen und Chrissies Lebensmittelpunkt schon seit einiger Zeit in Münster ist. Aber das mit ihr ist die einzige Freundschaft, bei der das komplett egal ist – ich spüre keine Eile. Chrissie ist ein Faktor in meinem Leben, eine Konstante, keine Momentaufnahme und kein Event. Wenn wir miteinander sprechen, ist es so, als sei dazwischen nichts gewesen und seit zehn Jahren nennen wir uns Schoko- und Vanillebär wie Turk und J.D. aus Scrubs – wegen unserer unterschiedlichen Hautfarben. Als hätten wir uns gestern zuletzt gesehen. Und ich weiß, dass wir uns irgendwann wiedersehen, dass wir Deckenzelte bauen werden, auch, wenn sie mittlerweile verheiratet ist, und dass ich immer willkommen bin. Denke ich an meine Heimatstadt Frankfurt, denke ich unweigerlich an Chrissie und durch sie habe ich gelernt, dass „Heimat“ nicht nur ein Ort, sondern auch ein Mensch sein kann – ein sehr kleiner, sehr resoluter und sehr wunderbarer Mensch.

Zehn Jahre Deckenzelte – ein Text zur Gastfreundschaft von Jasmin Schreiber
Foto: (c) Jasmin Schreiber

 

*
Jasmin Schreiber ist Biologin, Illustratorin, Social Media Expertin und Journalistin aus Berlin und wenn sie nicht gerade schreibt, durchstreift sie Wälder und Berge mit Hund und Kamera.

 

Zehn Jahre Deckenzelte – ein Text zur Gastfreundschaft von Jasmin SchreiberFoto: (c) Jasmin Schreiber

 

*

 

Mit #orbanismgastfreundschaft, einem Blog- und Gratis-E-Book-Projekt wollen wir vorsätzlich positive Bilder, Gedanken und Vorstellungen in die Welt und zum Zirkulieren bringen. Wir hoffen, es so wieder plausibler zu machen, dass es zum Menschsein gehört, anderen Freundlichkeit entgegen zu bringen und ihnen in Notsituationen auch Schutz zu gewähren.

Wir laden euch herzlich ein, uns weitere Texte zum Thema selbst erlebte Gastfreundschaft (Umfang bis 3.000 Zeichen, kann aber auch ganz kurz sein) zu schicken, die wir bloggen und in einer versionierten E-Book-Anthologie bei Orbanism Publishing veröffentlichen dürfen. Wenn Letzteres, etwa aufgrund von Buchverträgen, nicht möglich ist, können wir Texte gern auch nur bloggen. Bitte Text mit Ein-Satz-Bio in der 3. Person, dazu optional ein Link zu eigenem Herzensprojekt, gern auch ein thematisch passendes Foto sowie ein Bild, das euch selbst zeigt (bitte nur Bilder, bei denen ihr die Rechte besitzt) , per Mail an Christiane Frohmann, cf AT orbanism DOT com, senden. – Wir möchten die Rechte an den Texten und ggf. Bildern nicht exklusiv, bitte achtet aber darauf, dass ihr spätere Nutzer auf unser Nutzungsrecht hinweist. Bitte bei diesem Projekt, weil es um persönliche Haltung geht, keine Texte unter Pseudonym einreichen.

Anzeige (falls eingeblendet)

Schreibe einen Kommentar